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  • AutorenbildChristian Grimm

Zwei Dinge

Am Ende seiner Kritik der praktischen Vernunft schreibt Immanuel Kant:

„Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Beide darf ich nicht als in Dunkelheiten verhüllt oder im Überschwenglichen, außer meinem Gesichtskreise suchen und bloß vermuten; ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewußtsein meiner Existenz. Das erste fängt von dem Platze an, den ich in der äußeren Sinnenwelt einnehme, und erweitert die Verknüpfung, darin ich stehe, ins unabsehlich Große mit Welten über Welten und Systemen und Systemen, über dem noch in grenzenlose Zeiten ihrer periodischen Bewegung, deren Anfang und Fortdauer. Das zweite fängt von meinem unsichtbaren Selbst, meiner Persönlichkeit an und stellt mich in einer Welt dar, die wahre Unendlichkeit hat, aber nur dem Verstande spürbar ist, und mit welcher (….) ich mich nicht wie dort in bloß zufälliger, sondern allgemeiner und notwendiger Verknüpfung erkenne. Der erstere Anblick einer zahllosen Weltenmenge vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit…. Der zweite erhebt dagegen meinen Wert als einer Intelligenz unendlich durch meine Persönlichkeit,…“

Kant veröffentlichte diese in ihrer Schlichtheit überraschenden Sätze am Ende seiner Kritik der praktischen Vernunft im Jahre 1788.

Seine Lebenszeit (1724 bis 1804) war begleitet von zahlreichen Schlachten und Kriegen zwischen den europäischen Großmächten[1]. Relativ unbekümmert nahmen die Herrschenden „von Gottes Gnaden“ in Kauf, um ihrer persönlichen und dynastischen Interessen willen, Tod, Leid und Zerstörung über ihre Untertanen zu bringen. Vor diesem geschichtlichen Hintergrund enthält schon die hier zitierte Passage eine Mahnung Kants an die Krieg führenden Parteien, eine Mahnung, die er später in seiner Schrift Zum ewigen Frieden (1795) noch vertiefte.

Wie, frage ich mich, mag es heute um das Gemüt jener Staatenlenker bestellt sein, die Krankenhäuser, Säuglingsstationen, Kindergärten und Schulen bombardieren, die das eigene Volk mit chemischen Waffen bekämpfen, die politische Gegner vergiften, sie in Einzelhaft zerbrechen und Tausende ermorden. Was treibt sie an? Lässt sich ihr Verhalten mit bloßer Eitelkeit und Machtgier erklären? Eine eigehende Charakterstudie, individuell auf den einzelnen Machthaber bezogen, wäre hier erforderlich. Egozentrik, Narzissmus, Angst vor dem eigenen Tod, Sadismus, Nekrophilie sind einige Begriffe, die in entsprechenden Studien eine Rolle spielen dürften.

Ist es naiv, sich zu wünschen, sie mögen einmal zu den Gestirnen aufblicken, um bescheiden zu werden und ihre Winzigkeit zu erkennen; oder sich zu wünschen, sie mögen einmal in sich hineinhören, um zu erkennen, wie sehr sie das moralische Gesetz verletzen, das auch in ihnen angelegt ist. Vollends unbegreiflich wird ihr Verhalten angesichts der bei dem einen oder anderen doch recht begrenzten Lebensspanne, die ihnen noch zur Verfügung steht. Oder ist gerade das die Triebfeder ihres Tuns?

Während ich diese Zeilen schreibe, erreicht uns die Nachricht vom Tode Nawalnys. Direkter Mord oder ein Mord auf Raten? Das spielt an sich nur eine untergeordnete Rolle. Putin und das von ihm geschaffene System zeigen wieder einmal in besonders deutlicher Weise, wozu sie fähig sind. Die Fakten verdichten sich:  sie sind auf dem Weg, sich einzuordnen in eine Reihe mit Stalin, Mao, Pol Pot und Hitler. 

Erich Fromm schrieb bereits Anfang der 1970er Jahre im Epilog seiner epochalen Schrift Anatomie der menschlichen Destruktivität:

„Die Situation der Menschheit ist heute zu ernst, als dass wir uns erlauben könnten, auf die Demagogen zu hören - und am allerwenigsten auf all jene Demagogen, die von der Destruktion angezogen sind – oder auf jene Führer, die nur ihren Verstand benutzen und ihr Herz verhärtet haben. Kritisches und radikales Denken wird nur dann fruchtbar sein, wenn es mit der kostbarsten Eigenschaft des Menschen vereint ist - mit seiner Liebe zum Leben.“

 

 

 

 


© Christian Grimm


[1] 1733 – 1735 Polnischer Thronfolgekrieg; 1740 – 1748 Österreichischer Erbfolgekrieg (inkl. 1. und 2. Schlesischer Krieg); 1756 – 1763 Siebenjähriger Krieg; 1775 – 1783 Amerikanischer Unabhängigkeitskrieg; 1778/79 Bayerischer Erbfolgekrieg; 1788 – 1790 Russisch – Schwedischer Krieg; 1792 – 1815 Revolutions- und Koalitionskriege. 

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