Gedanken zu einem Projekt von Stefanie Gölz und Andreas Meinel
von Prof. Dr. Christian Grimm
1.Projektbeschreibung
„Stimmen im Fluss“, so heißt ein Projekt von Stefanie Gölz und Andreas Meinel, das im Rahmen der 1300 Jahrfeier zur Ankunft des Hl. Korbinians in Freising entwickelt wurde. Ein großes Wasserrad wird in der Moosach installiert. Es besteht aus zwei miteinander verbundenen Metallscheiben. Auf der einen Scheibe sind in sieben Segmenten die Todsünden eingraviert, auf der zweiten Scheibe entsprechend positive Gegenpole.
2. Einleitung
Sünde hat etwas zu tun mit der Fähigkeit, zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können. Das rein instinktmäßig handelnde Tier kann nicht sündigen. Der Mensch kann es, seit er vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, (wobei hier seine Willensfreiheit vorausgesetzt wird).
In der Bibel heißt es dazu: Nachdem Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, sprach Gott der Herr:
"Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist. Nun aber, dass er nur nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens und esse und leben ewiglich! Da wies ihn Gott der Herr aus dem Garten Eden..."
Zwei verbotene Bäume gab es also im Garten Eden. Der Baum des Lebens wird im Alltag oft vergessen. Damit, dass der Mensch Gut und Böse zu unterscheiden gelernt hat, damit hätte der Gott des Alten Testaments leben können, damit hatte er sich abgefunden. Das ewige Leben aber wollte er dem Menschen verwehren.
In unserer Zeit gibt es Bestrebungen, diesen Makel zu überwinden. Posthumanistische Wissenschaftler, u.a. Hans Moravec und Ray Kurzweil arbeiten daran, die "Hardware" Körper überflüssig zu machen und stattdessen den unsterblichen virtuellen Menschen zu erschaffen. S. dazu meinen Aufsatz "Der Posthumanismus oder der parallele Himmel" (Homepage) sowie meine Erzählung "Der parallele Himmel" in meinem Erzählband "Vom Verlust der Leichtigkeit".
3. Die Todsünde der Wollust
Die sieben Todsünden, sind nach der katholischen Glaubenslehre so schwerwiegende Verfehlungen gegen göttliche Gesetze, dass sie auch „Hauptsünden“ genannt werden, Hauptsünden deshalb, da aus ihnen weitere, sogenannte „lässliche Sünden“ folgen können. Bei der Aufzählung der Todsünden steht die Luxuria, also die Wollust in der Regel an der dritten Stelle, so auch hier auf der ersten Scheibe des Wasserrades.
In der Antike ist der Begriff Luxuria und der im Wesentlichen gleich verwendete Begriff der Voluptas zunächst positiv besetzt.
Luxuria bedeutet üppiges Wachstum (z.B. die Saat betreffend), Überfluss, Üppigkeit und erst bei Übertreibung erhält sie den negativen Sinn der Genusssucht.
Voluptas bedeutet Vergnügen, Freude, Lust und Wonne, auch Sinnengenuss. Volupia ist in der römischen Mythologie die Göttin der Lebenslust, auch der sexuellen Lust. Die Entsprechung in der griechischen Mythologie ist die Göttin Hedoné. Von ihrem Namen leitet sich der in der wissenschaftlichen Ethik und im allgemeinen Sprachgebrauch bekannte Begriff des „Hedonismus“ ab.
Diese in der Antike durchaus positiven Aspekte von Luxuria und Voluptas werden in der eher leibfeindlichen katholischen Kirche im Mittelalter und der frühen Neuzeit mehr und mehr ins rein Negative gezogen. Sie werden zu einer Todsünde, die ohne Vergebung und Buße geradewegs in die Hölle führt. Häufig wird ihr Vorwurf in Hexen- und Ketzerprozessen als ein Anklagepunkt missbraucht, bis hin zum Vorwurf des Geschlechtsverkehrs mit dem Teufel. Die Strafe bestand häufig in der Verbrennung auf dem Scheiterhaufen bei lebendigem Leibe.
Es ist nicht abwegig, von einem bewusst errichteten System der Todsünden und der damit verbundenen Drohung ewiger Verdammnis zu sprechen. Es wird ein Klima der Angst erzeugt, einer immer wirkenden, unterschwelligen Angst, sich auch mit kleineren Verfehlungen der Schwelle zur Todsünde zu nähern. Vorsicht ist gebunden in allen Handlungen. Sie könnten ohne Reue, Buße und Vergebung durch einen Priester! in die ewige Verdammnis führen.
Verfluchtes Glück! (Teilüberschrift bei G. Schulze, Die Sünde) Enthaltsamkeit und Askese gelten als Gegenmittel. Heilige und Prediger wenden sich seit dem Urchristentum gegen das Glück der anderen und auch gegen sich selbst. Drastisch ist das Beispiel des Kirchenvaters Origines aus dem 3. Jahrhundert, der unter Berufung auf ein angebliches Jesuswort "um des Himmelreiches willen" sich selbst kastrierte, um gegen die Versuchungen des Fleisches bestehen zu zu können. (Matthäus 19,12 zit. bei G. Schulze, S. 12).
Seit der Aufklärung und Säkularisierung ist dieses System unter dem Druck der Gesellschaft und aufgeklärter Staaten zwar nicht in Vergessenheit geraten, aber es hat seine ehemals das gesamte öffentliche und private Leben beherrschende Macht verloren.
4. Die Frage nach dem Glück
Bei der Auseinandersetzung mit der Frage der Todsünde kommt man in Berührung mit der Frage nach dem Glück. Vorweg sei betont, dass glücklich sein zu wollen nicht per se etwas Negatives darstellt. Im Gegenteil. Thomas von Aquin (1225 - 1274) etwa betont in seiner Summa theologica: „Der Mensch will die Glückseligkeit naturhaft und mit Notwendigkeit; glücklich sein wollen ist nicht Sache freier Entscheidung“ (gemeint: rationaler Entscheidung dafür oder dagegen d. V.). Der Wille ist „unvermögend“, Glückseligkeit nicht zu wollen. (zit. bei Josef Pieper, Über die Liebe, S. 124,125.)
Wie dieser Zustand der Glückseligkeit zu erreichen ist, dazu finden sich schon in der Antike zwei große Theorien. Sie wirken bis in unsere Zeit.
Aristoteles (384 - 322 v. Chr.), einer der größten Philosophen des Abendlandes, ein Universalgenie, dem das gesamte Wissen seiner Zeit zu Gebote stand, er verbrachte einen Großteil seines Lebens in Athen, war lange Zeit Schüler Platons, dessen Lehre er weiterentwickelte. Er hatte großen, auch öffentlichen Einfluss, war u.a. Lehrer Alexanders des Großen. Er vertritt folgende Meinung: Glück erreicht man durch ein tugendhaftes Leben (Tugendlehre). Er geht davon aus, dass glücklich zu sein Ziel allen menschlichen Tuns sei. Tugendhaft handeln heißt bei ihm u.a. die rechte Mitte zu finden, also den Weg zwischen den Extremen. Als Beispiel nennt er zwischen Tollkühnheit und Feigheit den Mut und die Tapferkeit.
Epikur (341 - 270 v. Chr. : Im Hedonismus, der in der Regel auf diesen Philosophen zurückgeführt wird, wird die Lust (auch die sexuelle Lust) zum Lebensprinzip erhoben. Wobei zur Verteidigung Epikurs gesagt werden muss, dass er stets betonte, dass es auch höhere Genüsse als die rein körperlichen Lustgefühle gibt. Im Übrigen führte er ein sehr einfaches, kontemplatives Leben, weg vom großstädtischen Getriebe Athens mit Freunden auf dem Lande. Zusammengefasst lässt sich sagen: Zum Glück gehören bei ihm: 1. Freunde, 2. Freiheit und 3. Besinnung.
5. Hedonismus als aktuelles Lebensprinzip
Die große Zahl der Kirchenaustritte sowohl in der katholischen als auch evangelischen Kirche sind ein deutlicher Hinweis darauf, dass in weiten Teilen der Gesellschaft eine Jenseitsorientierung im Denken und Handeln abgenommen hat. Für die Mühsal im Diesseits bei einem tugendhaften Leben im Jenseits entlohnt zu werden (übrigens auch ein Herrschaftsinstrument), ist unserem Denken fremd geworden. Das führt vielfach dazu, das Leben im Diesseits als das einzige zur Verfügung stehende Leben zu betrachten und all das mitzunehmen, was das Diesseits zu bieten hat. Wie sehr dabei soziale Gerechtigkeit, Generationengerechtigkeit, Klimaschutz, Artenschutz, Wasserschutz usw. in den Hintergrund gedrängt werden, zeigt sich Tag für Tag in den gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen und in der Realität. Die dabei zum Ausdruck kommende Besitzgier, dieses alles Haben-wollen, das ist die Todsünde unserer Zeit.
6. Über die Liebe
Auf dem Wasserrad sind auf der zweiten Scheibe den Todsünden der ersten Scheibe positive Entsprechungen entgegengesetzt, hier also unter Punkt 3 Liebe und Zärtlichkeit.
Eine Definition des Begriffes Liebe: ein starkes Gefühl inniger und tiefer Zuneigung zu einem beseelten Wesen, insbesondere zu einer Person, die den Zweck oder den Nutzen einer zwischenmenschlichen Beziehung übersteigt. Eine sehr abstrakte und der Konkretisierung bedürftige Definition.
Dass die Liebe als ein Wesenselement und ein zentraler Wert der Menschheit empfunden wird, zeigt sich an den unzählbaren Auseinandersetzungen mit ihr in der Wissenschaft (Psychologie, Philosophie) und in der Literatur. Ihre umfassende Lebensbedeutsamkeit und ihr Variantenreichtum wird bereits bei einem Blick auf die verschiedenen „Liebesobjekte“ sichtbar, z.B. die Liebe der Eltern zu den Kindern, die Liebe zwischen Partnern, die Liebe zum Leben, die Liebe zur Menschheit oder auch die Liebe zu Gott.
Auffallend ist heute ein geradezu inflationärer Gebrauch des Wortes Liebe in der Gesellschaft, insbesondere in den Medien und in der Werbung. Liebesobjekte können sein z.B. das Auto, der Fußballverein, ein Urlaubsland, ein Parfüm usw.
Wenn wir dagegen die zärtliche Liebe beschreiben wollen, so fällt auf, dass sie beschränkt ist auf beseelte Wesen, insbesondere auf das Verhältnis von Mensch zu Mensch. Wesentlich ist ihr, dass das Besitzen wollen in den Hintergrund und an dessen Stelle ein schenkender Aspekt in den Vordergrund tritt: dem anderen Glück schenken wollen. Als körperlicher Bestandteil: den anderen begierdelos in die Arme nehmen, durchs Haar streichen etc.
Eine Verwandtschaft zeigt sich zum christlichen Begriff der Agape. Wie diese ist die zärtliche Liebe unmotiviert und häufig spontan.
Im metaphysischen, religiösen Bereich denke ich an die Marienverehrung, an die Maiandachten meiner Kindheit, die Marienlieder, an das Murmeln des Rosenkranzes in der dunklen, nach Weihrauch und Kerzen duftenden Kirche. Nicht weit davon entfernt liegen Mitleidsaspekte, die in bildlichen Darstellungen zum Ausdruck kommen, z.B. Jesus in der Rast, Pieta- Darstellungen usw.
Hierzu zwei Gedichte aus meinem Gedichtband „dem Meer entgegen“ Lorbeer Verlag, Bielefeld 2017, S. 33 und 139
Klostergarten
Hier lag alles Blühen
im Gitternetz des Lichts,
hier verfingen sich
Nonnenhände und Wind
und Rosenduft.
Hier war die Liebe erlaubt,
hier durfte Hingabe sein
an Kerbel, Anis und Akelei
schrankenlos, zärtlich
und gottgefällig.
Dort wo der Wind
Dort wo der Wind
an Thymianmauern scheitert
und abdreht ohne Bitterkeit
und schließlich doch
die Trennung überfliegt
das Kieskreuz schlägt
und über Buchs und Rosen
die Perlen zählt
und niederkniet
vor diesen Nonnenhänden
und ihrer porentiefen
Liebe Glauben schenkt
dort ist ein Weg vielleicht
ein Kreuzgang der nicht endet
und endlos doch zur Mitte führt.
7. Ausblick
Das Wasserrad in der Moosach ist ein gut gewähltes Symbol für den Fluss des Lebens. So wie dieser kleine, fünfzig Kilometer lange Fluss in die Isar mündet, diese in die Donau, die sich schließlich in das Schwarze Meer ergießt, so wird sich auch unser Leben einst im Meer, das heißt, im Allgemeinen auflösen. Und wie dieses Wasserrad werden wir auf diesem Wege unsere Sünden und unsere guten Taten mitnehmen.
Immanuel Kant hat einmal diesen geradezu tröstlichen Satz geschrieben: „Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nicht ganz Gerades gezimmert werden.“
Ein schöner Schluss ergibt sich auch durch folgenden Gedanken: Thomas von Aquin betrachtet im Rückgriff auf Aristoteles den Menschen als zusammengesetzte Substanz, d.h. als ein Wesen zusammengesetzt aus Geist und Materie. Anders die Engel, die als einfach strukturierte Wesen nur aus Geist ohne diese Beimengung von Materie bestehen. (Diese Ansicht war Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen in der Scholastik.) Das mit den Engeln verläuft mittlerweile reibungslos. Interessant bleibt dagegen das Verhalten der Menschheit. Wir sind - und das hängt mit unserem materiellen Anteil zusammen - der Kampfplatz von Gut und Böse. Mitten durch uns verläuft die Grenze zwischen diesen beiden Prinzipien. Wer an einen persönlichen Gott glaubt, also an eine göttliche Person, die sich um die Menschen kümmert, könnte auch sagen:
Wir sind Gottes geliebte Kinder, seine schwarzen Schafe, seine verlorenen Söhne und Töchter, deren Heimkehr er erwartet.
© Christian Grimm
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